Anmerkungen zur Transkription
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Autobiographische Novelle
von
Leo N. Tolstoi
Aus dem Russischen übertragen
und eingeleitet von
Adolf Heß
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Tolstois Gattin und Herausgeberin seiner Werke, dieGräfin S. A. Tolstoi, schreibt in ihrem Vorwort zum erstenBande der neuen Ausgabe von Tolstois Werken, die nachseinem Tode erschienen ist: »Als ich die neue Gesamtausgabezum Druck vorbereitete, fand ich unter den aufdie »Kindheit« bezüglichen Manuskripten einen Brief Tolstoisan seinen Bruder Sergei, aus dem ich ein Bruchstück hieranführe: »… Du glaubst nicht, wie unangenehm es fürmich war, meine Novelle (»Kindheit«) gedruckt zu lesen:so viel ist von der Zensur und Redaktion an ihr gestrichenund geändert. Ich darf mit Fug und Recht behaupten,daß alle Trivialitäten und alle Absurditäten, die Du sicheran der Arbeit bemerkt hast, nicht von mir herrühren. UmDir zu zeigen, welch' niederträchtige Änderungen man vorgenommenhat und wie sie mich empört haben, schicke ichDir den Brief, den ich im ersten Augenblick an den Redakteurschrieb, aber nicht abgesandt habe … 5. Dezember1852.«
Die Herausgeberin bemerkt dann, auf Grund diesesBriefes hätte sie sämtliche die »Kindheit« betreffendenManuskripte durchgesehen und nach ihnen die Erzählungohne jene »Trivialitäten und Absurditäten« wiederhergestellt,von denen Tolstoi in seinem Briefe schreibt.
Nach dieser letzten russischen Fassung erscheint TolstoisWerk »Kindheit« in Reclams Universal-Bibliothek zum erstenmalin deutscher Sprache. Es ist bezeichnend für die Sorgfalt,mit der Tolstois Schriften im In- wie Auslande, inEinzel- und sogenannten Gesamtausgaben – in Deutschlandgibt es eine solche nicht – bislang veröffentlicht wurden,daß ein Werk wie die »Kindheit« fünfzig Jahre langausschließlich in einer Fassung vorlag, die den Autor nachseinen eigenen Worten empörte!
Tolstois »Kindheit« ist weder in bezug auf Umfang nochInhalt mit den biographischen Meisterwerken eines Goetheund Rousseau auf eine Stufe zu stellen – der Autor standam Anfang der zwanziger Jahre, als er sein Erstlingswerkveröffentlichte, das ihm Anwartschaft auf den Namen einesberühmten Schriftstellers einbrachte. Der russische Gutsbesitzerssohn,der sich noch wenig im Leben umgetan, wollteweder, noch konnte er damals ein Stück weltumspannenderZeitgeschichte im Rahmen eines ungewöhnlich reichen undfruchtbaren Einzelschicksals geben, wie Goethe; noch hatteer gleich Rousseau Bekenntnisse vorzutragen, die das Verkehrteund Schädliche ganzer Zeitströmungen an einemlebendigen Beispiel schilderten und der Bildung zukünftigerGenerationen neue Wege wiesen. Der Russe lieferte ganz einfachein Stückchen Familiengeschichte, Kindheitserinnerungeneines Werdenden, der für sich und andere festzuhalten sucht,was ihm damals das Liebste und Wertvollste war: seineJugendgedanken. Tolstoi wählte die autobiographische Form,ging aber sehr frei mit den Personen und Ereignissen um.So hat er zum Beispiel seine Mutter tatsächlich im zartestenKindesalter verloren und sie überhaupt nicht, und den Vater,der ebenfalls früh starb, nur sehr wenig gekannt. Auchbesaß Tolstois Vater nicht die Eigenschaf