HYPERIONVERLAG / BERLIN
Zweite und dritte Auflage
Gedruckt von Emil Herrmann senior in Leipzig
im Jahre 1919
Gedanken, Meinungen und Überzeugungendrängen nach Äußerung, lange bevor wir nochwissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen,in welche Form wir sie bringen können. Deneinen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführungoder zur Tat, den minder Glücklichen zwingensie zur Schrift.
Leopardi nennt die so verbreitete Meinungvon der Seltenheit der Originale einen großenIrrtum, denn bei näherer Betrachtung erweisesich fast ein jeder als ein ganz einziges, nochnie dagewesenes Exemplar! Einem solchen Begriffder Originalität fehlt freilich jedes Prestige.Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomiender Menschen wie mit den äußerlichen.Könnten wir jene mit den Augen sehen,wir würden da genau dieselbe Mannigfaltigkeit,aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen,wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sichauf geistigem Gebiete der Wahn so bemerkbarmacht, als sei hier eine Unterschiebung dereigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendereleichter möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeitleichter zu täuschen oder zu umgehen,als in der körperlichen Welt. Wie wenigesind denn wirklich schöne oder vollendete Typen!Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antikerStatuen, deren Wirkung durch einen ergänztenKopf, eine fremde Bewegung verdorbenoder gestört wird, statt daß sie bleiben, was siesind, nämlich meist ohne Kopf und Fuß, aberecht.
Marie stand mit fünf Jahren eines Morgensunter einem Baum, dessen Laub im Winde rauschteund den blauen Himmel durchblicken ließ. „DasLeben ist schön!“ dachte sie.
Da flog ein Blatt von den Zweigen herab inihre Hand, und während sie seine groben Adernund Fasern langsam auseinanderriß, wurde sieunsäglich verstimmt. Nicht der frohbewegteWipfel in der Höhe, das einzelne langweiligeDing in ihren Händen war die Wirklichkeit! —
Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zumerstenmal an ihr Bewußtsein an; denn es gibtnichts Neues im Menschen. Das fin mot einesIch’s ist ein Motiv, und was hinzutritt, sind Amplifikationen.
Schon ein Jahr darauf lernte sie im Klosterdie Langeweile kennen, zu der sie neigte wieein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen,und die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermitteltwie ein Wind, der um die Ecke fährt.
In ihrem Kloster blies sie durch das ganzeHaus, um alle Mauern, und durch den ganzenGarten, die Stelle ausgenommen, an der einereizende Brücke über den Wildbach bog, Libellenunklösterlich schwirrten und die Bäume parkähnlichzusammenstanden. Aber alles anderewar häßlich. Zwei hohe plumpe Berge versperrtenwie Riesentore nach Norden hin dieWelt, und die Monatsrosen standen, meist verwelktund verweht, um ein mächtiges Kreuz vordem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich