Thomas Mann
Gesammelte Werke
1924
S. Fischer / Verlag / Berlin
Thomas Mann
Roman
Zweiter Band
1924
S. Fischer / Verlag / Berlin
Erste bis zehnte Auflage
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
Copyright 1924 by S. Fischer, Verlag, A.-G., Berlin
Der Zauberberg
Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig.Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung,verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raumund ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegungwäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Fragenur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt?Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeitist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie „zeitigt“. Was zeitigtsie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht damals, hier nichtdort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung,an der man die Zeit mißt, kreisläufig ist, in sich selberbeschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung,die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnenkönnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt,das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzterRaum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nichtvorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeitund Raum als ewig und unendlich zu „denken“, – in der Meinungoffenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwasbesser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen undUnendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenztenund Endlichen, seine verhältnismäßige Reduzierung aufnull? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichenein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmendes Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Entfernung,Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandenseinbegrenzter Körper im All? Das frage du nur immerhin!
Hans Castorp fragte so und ähnlich in seinem Hirn, das gleichbei seiner Ankunft hier oben zu solchen Indiskretionen undQuengeleien sich aufgelegt gezeigt hatte und durch eine schlimme,aber gewaltige Lust, die er seitdem gebüßt, vielleicht besondersdafür geschärft und zum Querulieren dreist gemacht wordenwar. Er fragte sich selbst danach und den guten Joachim unddas seit undenklichen Zeiten dick verschneite Tal, obgleich er javon keiner dieser Stellen irgend etwas einer Antwort ähnlicheszu gewärtigen hatte, – schwer zu sagen, von welcher am wenigsten.Sich selbst legte er solche Fragen eben nur vor, weiler keine Antwort darauf wußte. Joachim seinerseits war zurTeilnahme daran fast gar nicht zu gewinnen, da er, wie HansCastorp es eines Abends auf französisch gesagt hatte, an nichtsdachte als daran, im Flachlande Soldat zu sein und mit derbald sich nähernden, bald foppend wieder ins Weite schwindende