Ullstein
Kriegsbücher
Reise zur deutschen Front 1915
Zweiter Teil
Von
Ludwig Ganghofer
1915
Verlag Ullstein & Co, Berlin / Wien
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Amerikanisches Copyright 1915 by Ullstein & Co, Berlin.
Es gibt Bilder, die sich dem in Erregungschauenden Auge so glühend einprägen, daßsie, wenn man die Lider schließt, immer wiederaus der Nacht heraustreten und in roten Liniendie geschaute Wirklichkeit nachzeichnen. Ein solcherNervenreiz, der auf der Netzhaut nicht mehr erlöschenwill, ist für mich das Vernichtungsbilddes Forts Boussois bei Maubeuge geworden.
Vor Wochen schilderte ich die Ruine, in diedas Fort Les Ayvelles durch die deutschen Haubitzenverwandelt wurde. Dieses Bild der Zerstörungschien mir keiner Übertreibung mehrfähig. Aber was ich damals gesehen habe, verhältsich zum Untergangsbilde von Boussoiswie ein Häuflein Glasscherben zum Trümmerfeldeeines Bergsturzes.
Wenn ich an Maubeuge denke und die Augenschließe, erwachen zuerst die sinnlos durcheinandergewirrten Linien eines von einer Mörsergranateerzeugten Explosionsschachtes, der durchden hohen Erdwall trichterförmig hinunterstürztin ein Festungsgewölbe und durch diedarunterliegende Kasematte sich noch abwärtsbohrt bis in den Keller. Der Schacht windetsich zickzackähnlich hin und her, als hätte ihn einBlitzstrahl von der Dicke eines vielhundertjährigenBaumes ausgebrannt. Und wenn auchdie Sonne eben hineinscheint in den weitausladendenErdtrichter, so ist doch drunten in der Tiefenoch immer die schwarze Finsternis.
Ich bin über steile Felswände unserer Bergehinweg gestiegen und habe auf das winzigeSpielzeug der Talwälder über tausend Metertiefe Abstürze hinuntergeschaut, ohne daß ichein Gefühl des Schwindels empfinden lernte.Aber hier, im zerstörten Fort Boussois, amRande dieses nur zwölf oder vierzehn Metertiefen Kamins, den der brüllende Kriegsteufeldurch drei Stockwerke einer mit Soldaten vollgepfropften Festungskaserne hinunterschlug bisin das Kellerdunkel – hier befiel mich einSchwindel des Grauens. Hier lernte ich verstehen,was mir immer unglaublich schien,wenn ich es erzählen hörte: daß eine solcheFestung, gebaut, um einer Welt zu trotzen, sichnach einer Beschießung von wenigen Stundenergab, und daß die noch Lebenden der Besatzungwie Wahnsinnige aus dem Tor herausranntenoder getaumelt kamen wie nach AtemRingende, wie Erstickende. Der grauenvolleAnblick dieses Schachtes erläuterte mir auchein Bild, das ich am folgenden Tage zu sehenbekam: das Bild des Krüppelsaales im Spitalder französischen Schwerverwundeten zu Avesnes.
Ich wollte diesen Saal betreten. Aber nachdem ersten Schritt über die Schwelle mußte ichstehen bleiben – etwas Fürchterliches hattemir an den Hals gegriffen. Gegen achtzigBetten. Und jedes Bett hatte seinen uniformiertenGast. Ein Gewirre bunter Farben. Infanteristen, Kanoniere und Reiter, Spahisund Turkos, Europäer und Afrikaner – aberunter ihnen kein einziger mehr, der ein ganzerMensch war. Der eine ohne Beine, der andereohne Arme, ein dritter mit halbem Gesicht.Einarmige und Einfüßige, mit Krücken undmit Stelzbeinen, mit umgeknickten Ärmeln undmit aufgebogenen Hosenschäften, mit A