Roman aus dem Russischen
des
Grafen Leo N. Tolstoi.
Nach der siebenten Auflage übersetzt
von
Hans Moser.
Erster Band.
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
„Die Rache ist mein, ich will vergelten.“
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglücklicheFamilie ist auf ihre Weise unglücklich. —
Im Hause der Oblonskiy herrschte allgemeine Verwirrung. Die Dame desHauses hatte in Erfahrung gebracht, daß ihr Gatte mit der im Hausegewesenen französischen Gouvernante ein Verhältnis unterhalten, und ihmerklärt, sie könne fürderhin nicht mehr mit ihm unter einem Dachebleiben. Diese Situation währte bereits seit drei Tagen und sie wurdenicht allein von den beiden Ehegatten selbst, nein auch von allenFamilienmitgliedern und dem Personal aufs Peinlichste empfunden. Siealle fühlten, daß in ihrem Zusammenleben kein höherer Gedanke mehrliege, daß die Leute, welche auf jeder Poststation sich zufällig träfen,noch enger zu einander gehörten, als sie, die Glieder der Familieselbst, und das im Hause geborene und aufgewachsene Gesinde derOblonskiy.
Die Herrin des Hauses verließ ihre Gemächer nicht, der Gebieter warschon seit drei Tagen abwesend. Die Kinder liefen wie verwaist im ganzenHause umher, die Engländerin schalt auf die Wirtschafterin und schrieban eine Freundin, diese möchte ihr eine neue Stellung verschaffen, derKoch hatte bereits seit gestern um die Mittagszeit das Haus verlassenund die Köchin, sowie der Kutscher hatten ihre Rechnungen eingereicht.
Am dritten Tage nach der Scene erwachte der Fürst Stefan ArkadjewitschOblonskiy — Stiwa hieß er in der Welt — um die gewöhnliche Stunde, dasheißt um acht Uhr morgens, aber nicht im Schlafzimmer seiner Gattin,sondern in seinem Kabinett auf dem Saffiandiwan. Er wandte seinen vollenverweichlichten Leib auf den Sprungfedern des Diwans, als wünsche ernoch weiter zu schlafen, während er von der andern Seite[4]innig ein Kissen umfaßte und an die Wange drückte. Plötzlich aber spranger empor, setzte sich aufrecht und öffnete die Augen.
„Ja, ja, wie war doch das?“ sann er, über seinem Traum grübelnd. „Wiewar doch das? Richtig; Alabin gab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht inDarmstadt, es war so etwas Amerikanisches dabei. Dieses Darmstadt waraber in Amerika, ja, und Alabin gab das Essen auf gläsernen Tischen, ja,und die Tische sangen: ‚Il mio tesoro‘ — oder nicht so, es war etwasBesseres, und gewisse kleine Karaffen, wie Frauenzimmer aussehend,“ —; fiel ihm ein.
Die Augen Stefan Arkadjewitschs blitzten heiter, er sann und lächelte.„Ja, es war hübsch, sehr hübsch. Es gab viel Ausgezeichnetes dabei, wasman mit Worten nicht schildern könnte und in Gedanken nicht ausdrücken.“Er bemerkte einen Lichtstreif, der sich von der Seite durch diebaumwollenen Stores gestohlen hatte und schnellte lustig mit den Füßenvom Sofa, um mit ihnen die von seiner Gattin ihm im vorigen Jahr zumGeburtstag verehrten gold- und saffiangestickten Pantoffeln zu suchen;während er, einer alten neunjährigen Gewohnheit folgend, ohneaufzustehen mit der Hand nach der Stelle fuhr, wo in dem Schlafzimmersonst sein Morgenrock zu hängen pflegte.
Hierbei erst kam er zur Besinnung; er entsann sich jäh wie es kam, daßer nicht im Schlafgemach seiner Gattin, sondern in dem Kabinett schlief;